Von römischen Mythen und Helden
Wie man Leerstellen in lateinischen Texten auf kreative Weise füllen kann
In seinem Monumentalwerk Ab Urbe Condita (Von der Gründung Roms) hält der römische Historiograph Titus Livius in zahlreichen Büchern die Geschichte der Römer seit der mythischen Gründung ihrer Stadt Rom 753 v. Chr. fest. Darin spielen viele römische Heldinnen und Helden eine große Rolle. Nicht überall führt Livius seine Erzählungen im Detail aus – doch damit lässt er seinen Leser:innen Spielräume, um diese Lücken selbst kreativ zu füllen. Wie dies gelingen kann und dass Lateinunterricht auch zu Kreativität motiviert, zeigt unsere Autorin mit der folgenden Kurzgeschichte.
Wir befinden uns im Jahre 508 v. Chr. Die noch junge Republik Rom hat gerade ihren verhassten letzten König Tarquinius Superbus abgesetzt, doch sieht sich schon einem neuen Feind ausgesetzt: Der Etruskerkönig Lars Porsenna versucht durch eine Belagerung die Stadt Rom einzunehmen – mutmaßlich, um seinen ehemaligen Amtskollegen Tarquinius anschließend wieder an die Macht zu bringen.
Ein junger Adliger namens Gaius Mucius Scaevola sucht dies zu verhindern. Er will sich ganz allein heimlich in das feindliche Lager begeben, um dort den Anführer der Etrusker zu ermorden. Doch bevor er das Attentat ausführt, weiht er die Senatoren Roms in seinen Plan ein und bittet um deren Erlaubnis…
Im Senat war es still geworden. Die Befürworter des Antrags, der von Gaius Mucius, einem jungen, adligen Mann, gestellt worden war, standen denen gegenüber, die gegen den Antrag stimmten. Allein das Flüstern einzelner Senatoren war noch zu hören. Der Blick des Senators lag jedoch auf demjenigen, der das Abstimmungsergebnis festlegen würde: dem Vorsitzenden, auf dessen Seite im Raum auch die Befürworter des besagten Antrags standen.
Noch immer war der Vorsitzende zu keinem Ergebnis gekommen. Die Situation war auch keine leichte. Die Tore und Mauern Roms wurden von den Etruskern belagert, und die Lage ließ die Bürger unruhig werden. Sie hatten Hunger, die Nahrung wurde langsam, aber sicher knapp. Einige der ärmeren Menschen waren bereits vereinzelt gestorben. Jeder wusste, dass etwas getan werden musste. Keiner der Bürger, so dachte der Senator, wollte erneut eine Herrschaft der Etrusker erdulden müssen.
„In dieser Hinsicht wäre der Antrag stattgegeben“, verkündete der Vorsitzende von seinem Rednerpult aus.
Mit gemischten Gefühlen blickte der Senator zum Vorsitzenden hinauf, ehe er sich auf den Weg zu seiner Villa in der Nähe des Senats machte. Er ging an Holzständen vorbei, auf denen Tongefäße und eine dürftige Menge an Lebensmitteln verkauft wurden. Wenig später betrat er sein Heim. Der Antrag und das Ergebnis der Abstimmung hatten ihn nachdenklich gemacht. Er war zwiegespalten. Einerseits hielt er den Antrag für ausgesprochen leichtsinnig, andererseits gab es kaum eine Alternative, um den Stolz Roms aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die hinterhältigen Etrusker loszuwerden.
Der Senator schritt auf und ab. Noch immer war er ein wenig skeptisch. Der Plan schien gut durchdacht und auch ausführbar zu sein, doch fragte er sich, ob Mucius tatsächlich erwartete, zurückzukehren, nachdem der König der Feinde, Porsenna, gestorben war.
Er dachte nach. Der junge Mann war sehr mutig und entschlossen, wenn er es wagen wollte, allein gegen die Belagerung vorzugehen. Mit einer gewissen Distanz bewunderte der Senator ihn sogar für seine Furchtlosigkeit und den starken Willen, seine Stadt zu retten und zu beschützen. Auch rechnete er ihm hoch an, dass er keine Rache, sondern lediglich Freiheit für Rom wollte – eine Motivation, die absolut selbstlos war, sofern der Plan funktionierte.
Trotz alledem erfüllte den Senator ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, einen adligen, jungen Mann ohne spezielle Ausbildung auch noch allein ins Lager der Feinde ziehen zu lassen. Er hatte das Gefühl, dass zu vieles zu schnell schiefgehen könnte und dass Mucius sein Leben allzu leicht verlieren würde. Es war in gewisser Hinsicht Leichtsinn, den Gaius Mucius da ausführte. Doch die Abstimmung hatte entschieden. Er sollte gehen – mit dem Segen des Senats – und seinen Plan allein ausführen, ob er lebendig zurückkehren oder im Lager der Feinde sterben würde.
Di., 01.04.25 von Noemi A.